Geeint gegen Erdoğan
Von Nick Brauns
Es sind die größten türkeiweiten Proteste gegen die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan seit der Gezi-Park-Bewegung von 2013. Am Sonntag abend gingen den fünften Tag in Folge Hunderttausende Menschen trotz Versammlungsverboten in Großstädten wie Istanbul, Ankara und Izmir gegen die Verhaftung und Absetzung des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu auf die Straße. Tausende Studenten boykottierten am Montag den Unterricht. Ihr Protest richtet sich auch gegen die Aberkennung von İmamoğlus Diplom, mit der verhindert werden soll, dass der populäre Politiker bei Präsidentschaftswahlen gegen Erdoğan antreten kann. Eine Vorwahl der kemalistischen CHP, bei der auch Nichtmitglieder abstimmen durften, wurde am Sonntag mit 15 Millionen Teilnehmern zum Plebiszit für İmamoğlu. Am Montag nominierte die CHP den in Untersuchungshaft sitzenden Sozialdemokraten offiziell als ihren Kandidaten für die bislang auf 2028 terminierten Wahlen. Das Netzwerk »Revolutionäre Gewerkschaftssolidarität« fordert unterdessen die Ausweitung der Proteste zum Generalstreik.

Die Antwort der islamistisch-faschistischen Regierungsallianz besteht in zunehmender Repression. So griff die Polizei am Sonntag abend die vor dem Gebäude der Istanbuler Stadtverwaltung am Saraçhane-Platz versammelte Menschenmenge mit Wasserwerfern und Tränengas an. Beamte verfolgten Demonstranten durch die umliegenden Straßen und feuerten mit Plastikgeschossen. Innerhalb von fünf Tagen seien 1.133 Personen wegen »illegaler Aktivitäten« festgenommen worden, gab Innenminister Ali Yerlikaya am Montag an. Bei Razzien wurden in Istanbul und Izmir Funktionäre der Kommunistischen Partei der Türkei und der Partei der Linken festgenommen, außerdem zehn Journalisten, die die Proteste dokumentiert hatten, sowie Rechtsanwälte, die festgenommene Demonstranten vertreten.

Nachdem über soziale Medien das Gerücht verbreitet wurde, säkulare Regierungsgegner hätten im Hof der Şehzadebaşı-Moschee Alkohol getrunken, rief eine Jugendgruppe aus dem Umfeld der aufgrund tödlicher Anschläge verbotenen militant-islamistischen İBDA-C für Montag abend zum öffentlichen Fastenbrechen vor dem Gotteshaus in der Nähe der Stadtverwaltung auf. Auch während der Gezi-Park-Proteste hatten Falschmeldungen über angebliche Schändungen einer Moschee zur Mobilisierung religiöser Regierungsanhänger gegen die Protestbewegung gedient.

Ohne die sonst üblichen Polizeiübergriffe konnte am Sonntag ein kurdisches Newroz-Fest mit bis zu einer Million Teilnehmern in Istanbul stattfinden. Offensichtlich setzt die Regierung, die mit dem inhaftierten Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, im Gespräch ist, auf die Spaltung der kemalistischen und kurdischen Opposition. Befeuert werden solche Bestrebungen durch den dem rechten Flügel der CHP zugehörigen Oberbürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş. Dieser bezeichnete am Wochenende die auf den Newroz-Festen geschwenkten kurdischen Fahnen als »Lumpen« und wurde von der bekannten Abgeordneten der prokurdischen Dem-Partei Pervin Buldan daraufhin auf X als »Faşo« (Faschist) bezeichnet. Trotz solchen Störfeuers bekräftigten der zu einem Solidaritätsbesuch zur Stadtverwaltung gekommene Dem-Vorsitzende Tuncer Bakırhan und CHP-Chef Özgür Özel am Sonntag abend ihren Willen zum gemeinsamen Kampf für Demokratie und Frieden.

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Leserbrief von kwf (25. März 2025 um 11:35 Uhr)Die jW sollte damit beginnen, den Namen des türkischen Präsidenten korrekt zu schreiben: ErdoWAHN.
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